Trans Männer sind kein neues Phänomen. Und trotzdem: Wer in die Geschichtsbücher schaut, könnte meinen, es hätte sie nie gegeben. Während über Jahrhunderte Könige, Soldaten und Staatsmänner in die Archive geschrieben wurden, fehlen trans Männer fast völlig. Und wenn sie doch erscheinen, dann oft nur in Form von Skandalen, Gerichtsakten oder medizinischen Fallstudien – nie als handelnde Subjekte, nie als Menschen mit Geschichte.
In dieser Serie erzählen wir von denen, die als Männer lebten – trotz gesellschaftlicher Normen, trotz Gewalt, trotz Unsichtbarkeit. Doch bevor wir ihre Geschichten entdecken, lohnt sich ein Blick auf das Warum: Warum fehlen trans Männer in der Geschichtsschreibung? Warum wissen wir so wenig? Und warum wird ihre Existenz bis heute immer wieder bestritten – selbst innerhalb der queeren Community?
Was ein „trans Mann“ ist – und warum dieser Begriff relativ jung ist
Ein trans Mann ist eine Person, der bei der Geburt ein weibliches Geschlecht zugewiesen wurde, die sich aber als Mann identifiziert. Manche trans Männer lassen ihren Körper oder ihren Personenstand angleichen, andere nicht – ihre Identität ist keine Frage medizinischer Eingriffe, sondern der Selbstdefinition.
Der Begriff „trans Mann“ – oder „transgender Mann“ – tauchte erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf. In früheren Zeiten sprach man von „Transvestiten“ und „Geschlechtsumwandlern“ – alles Begriffe, die mehr über den medizinischen oder juristischen Blick sagen als über die betroffenen Menschen. Erst mit der LGBTQIA+-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre wurde es möglich, sich öffentlich als trans zu bezeichnen – und Gehör zu finden.
Warum trans Männer aus der Geschichte verschwinden
Die Gründe für dieses historische Schweigen sind vielschichtig – und sie wirken bis heute nach:
1. Es gab keine Sprache für ihre Realität
Über Jahrhunderte gab es nur zwei legitime Kategorien: Mann oder Frau – festgelegt durch die Anatomie bei Geburt. Wer dazwischen lebte oder den Platz wechselte, hatte keine Worte, um sich zu beschreiben. Und wer keine Sprache hat, hinterlässt selten Spuren in Archiven.
2. Ihre Geschichten wurden nicht erzählt – oder nur von außen
Fast alle historischen Zeugnisse über trans Menschen stammen aus der Perspektive von Behörden, Ärzten oder Richtern. Sie berichten vom Moment der Entdeckung, vom Urteil, von der „Abweichung“. Was die betroffenen Personen selbst fühlten, dachten oder wollten, bleibt meist unsichtbar.
3. Ihre Existenz war gefährlich
In vielen Epochen konnte es tödlich sein, als trans Mann zu leben. Wer als Frau „verkleidet“ in Männerrollen auftrat, konnte ins Gefängnis kommen, öffentlich bestraft oder sogar hingerichtet werden – wie im Fall von Catharina Linck, der letzten Person, die im deutschsprachigen Raum wegen gleichgeschlechtlicher Liebe zum Tode verurteilt wurde.
4. Ihr Wissen wurde ausgelöscht
1933 zerstörten die Nationalsozialisten das Berliner Institut für Sexualwissenschaft, in dem Magnus Hirschfeld und andere Pionier*innen unzählige Fallgeschichten, Forschungsergebnisse und Lebenserzählungen gesammelt hatten. Das war nicht nur ein Angriff auf queeres Wissen – es war ein gezielter Akt der Auslöschung. Und seine Folgen reichen bis heute.
Aber auch heute ist es nicht leicht, sichtbar zu sein
Zwar leben wir heute in einer Zeit, in der sich trans Menschen rechtlich und medizinisch outen können. Doch mit Sichtbarkeit kommt auch neue Angreifbarkeit. Trans Menschen sind weltweit Zielscheibe einer eskalierenden Kampagne: In den USA werden Gesetze erlassen, die ihnen den Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Sport verwehren. In Großbritannien propagieren Medien einen „trans Hype“. Und auch in Deutschland mehren sich transfeindliche Stimmen – aus Politik, Medien und leider auch aus queeren Kreisen.
Die Spaltung: Wenn LGB trans Menschen ausschließen will
Besonders bitter ist, dass der Ausschluss oft auch aus den eigenen Reihen kommt. In den vergangenen Jahren entstanden in mehreren Ländern Bewegungen, die sich unter dem Label LGB ohne T organisieren. Ihr Argument: Die Anliegen von Lesben, Schwulen und Bisexuellen seien nicht die gleichen wie die von trans Menschen – und müssten getrennt werden.
Was diese Haltung ausblendet: Ohne trans Menschen gäbe es die heutigen LGBTQIA+-Rechte vermutlich gar nicht.
Die Ersten, die sich in der Stonewall-Rebellion 1969 gegen Polizeigewalt wehrten, waren trans Männer of Color wie Stormé und trans Frauen wie DeLarverie und Marsha P. Johnson.
Der Begriff „Queer“ wurde in den 1990ern auch von trans Aktivist*innen radikal neu gefüllt – als Widerstand gegen eine enge, rein cis normative Vorstellung von Sexualität.
Trans Menschen waren und sind Vordenker*innen, Kämpfer*innen und Visionär*innen – in Bewegungen, die andere nur zu gern für sich reklamieren.
Dass gerade sie heute so oft ausgeblendet oder gar angegriffen werden, ist keine Ironie. Es ist Strategie.
Es geht nicht nur um Vergangenheit – es geht auch um Gegenwart
Diese Serie blickt zurück – ja. Aber sie bleibt nicht dort stehen. Denn auch heute kämpfen trans Männer um Sichtbarkeit, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe. Viele von ihnen schreiben Geschichte im Hier und Jetzt – als Aktivisten, Autoren, Lehrer, Wissenschaftler, Künstler, Sportler oder ganz einfach als Nachbarn und Freunde.
In den kommenden Artikeln werden wir daher nicht nur von historischen Persönlichkeiten erzählen, sondern auch trans Männer aus der Gegenwart vorstellen: Menschen, die heute in Deutschland oder anderswo für ihre Rechte kämpfen, ihre Geschichten öffentlich machen oder ganz bewusst einfach leben, weil auch das ein politischer Akt ist.
Denn Geschichte passiert nicht nur in Archiven. Geschichte passiert jeden Tag – auch jetzt, auch hier.
Warum wir zurückblicken müssen, um voranzukommen
Diese Artikelreihe ist nicht nur ein Blick in die Vergangenheit. Sie ist auch ein Statement gegen das Vergessen. Wer sich heute für queere Rechte einsetzt, sollte wissen, auf wessen Schultern er steht. Und wer behauptet, trans Menschen seien eine neue Erscheinung, hat schlicht nicht genau hingeschaut.
Die Wahrheit ist: Trans Männer gab es schon immer. Manche kämpften im Krieg, manche heirateten, manche lebten ein ganz normales Leben – und mussten genau deshalb unsichtbar bleiben.
Jetzt ist es an der Zeit, ihre Geschichten zu erzählen. Alte und neue.
Share this post