„Ich wollte einfach ich selbst sein“ – Das Leben des Justin Alexander
„Ich wollte einfach ich selbst sein“ – Das Leben des Justin Alexander
Mit diesem Interview starten wir eine neue Reihe: Echte Geschichten. Echte Menschen. Unser Ziel: die Stimmen von trans Menschen sichtbar machen – ungeschönt, ehrlich und in ihrer ganzen Vielfalt. Denn Sichtbarkeit schafft Verbundenheit – und gibt Mut.
💡 Du bist selbst trans oder nicht-binär und möchtest auch Deine Geschichte erzählen?
Melde Dich gerne bei uns – wir freuen uns über jede*n, der oder die Teil dieser Interviewreihe sein möchte.
Denver, Colorado, 1962. Justin Alexander wird in eine weiße, jüdische Mittelklasse-Familie geboren – Vater, Mutter, ein älterer Bruder. Es ist keine glückliche Kindheit. „Sie war verwirrend und frustrierend“, erinnert sich Justin heute. Schon mit drei Jahren weiß er, dass er kein Mädchen ist. Aber es gibt kein Wort dafür. Keine Vorbilder. Und vor allem: niemanden, der ihm glaubt.
„In der Vorschule musste ich mit den Mädchen in einer Reihe stehen und mit ‚Mädchenspielzeug‘ spielen. Ich habe nicht verstanden, warum ich als Mädchen behandelt wurde.“
Von Christine Jorgensen bis zur radikalen Feministin
Einen der ersten Aha-Momente erlebt Justin in der dritten Klasse. Dort hört er von Christine Jorgensen, einer trans Frau. Damals hieß das offiziell „Transsexualität“. Irgendetwas an ihrer Geschichte berührt ihn – auch wenn er noch nicht genau versteht, warum. Als er seiner Mutter sagt, er sei eigentlich ein Junge, antwortet sie: „Du bist nur ein Tom-Boy. Das geht vorbei.“ Doch es geht nicht vorbei. Es wird schlimmer – mit der Pubertät. Justin erlebt sie als Verrat des eigenen Körpers.
Weil ein Leben als trans Mann zu dieser Zeit undenkbar scheint, versucht er, sich einzufügen. Er wird radikale Feministin, kommt mit 18 als lesbisch heraus, bewegt sich in queeren Kreisen – doch es passt nicht. Mit 22 steht er kurz vor dem Suizid. „Ich sah keine Zukunft für mich.“
Die Rosenberg-Klinik: Ein neuer Anfang
Ein Gespräch mit einer befreundeten Krankenschwester verändert alles. Sie erzählt ihm von der Rosenberg-Klinik in Galveston, Texas – einem der wenigen Orte in den USA, der Menschen mit Genderdysphorie behandelt. Justin wird aufgenommen, durchläuft drei Monate intensiver Therapie – und beginnt, sich sozial zu transitionieren. Dann, mit Testosteron, beginnt endlich das Leben, das er immer wollte.
„Ich sah mich zum ersten Mal im Spiegel. Menschen sprachen mich so an, wie ich mich selbst sah. Ich hatte zum ersten Mal Hoffnung.“
Sechs Monate nach Beginn der Hormontherapie wird ihm die Top-Operation bewilligt – finanziert von seiner Mutter und Großmutter. Sein Vater ist zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben, doch sein Stiefvater steht ebenfalls hinter ihm. „Ich hatte Glück“, sagt Justin rückblickend. „Viele andere hatten das nicht.“
Leben im Schatten – und zwischen den Zeilen
Nach außen hin führt Justin ein „normales“ Leben. Er arbeitet weiter in seinem Job als Kurier – ein männlich dominierter Beruf –, bleibt im gleichen Stadtteil wohnen. Viele wissen, dass er trans ist. Einige akzeptieren ihn. Andere lehnen ihn ab. Wieder andere schweigen einfach.
Doch eine echte Community für trans Männer gibt es nicht. In Houston findet er zwar eine Selbsthilfegruppe – aber sie besteht zu 90 % aus trans Frauen. „Wir Jungs verschwanden da einfach im Hintergrund.“
Ein sicherer Ort in dieser Zeit ist für ihn der legendäre Club Numbers in Houston.
„Ein Ort für alle, die in der normalen Gesellschaft keinen Platz fanden. Dort fühlte ich mich nie bedroht.“
Pionierinnen und Wendepunkte
In den späten 1970ern erlebt Justin eine weitere Schlüsselfigur der trans Geschichte: Renee Richards, eine trans Frau, Augenärztin und professionelle Tennisspielerin. Nach ihrer Transition wird sie von der Teilnahme an den US Open ausgeschlossen. Sie klagt – und gewinnt. Für Justin ist das ein wichtiges Signal:
„Sie war eine der Ersten, die öffentlich gegen Diskriminierung gekämpft und gewonnen hat. Das war enorm.“
Rechtlosigkeit, AIDS und politischer Gegenwind
In den 1980ern haben trans Menschen keinerlei Rechte. Kein Kündigungsschutz. Kein Zugang zu medizinischer Versorgung. Kein Respekt. Stattdessen: kulturelle Stigmatisierung, medizinische Pathologisierung, politische Hetze.
„Die religiöse Rechte hat uns als Gefahr für die Gesellschaft dargestellt. Und dann kam AIDS. Wir verloren so viele. Und die Konservativen hatten ihren Sündenbock.“
Erst in den 1990ern kommt Bewegung in die Sache. Das „T“ wird dem LGB hinzugefügt – und mit der Bezeichnung LGBT beginnt endlich eine vorsichtige Anerkennung. 2009 wird Transidentität offiziell entpathologisiert. Doch ab 2017 kippt die Stimmung erneut. Trans Menschen werden erneut zum Spielball rechter Kulturkämpfe.
Zaghafte Fortschritte ab 2009
Ein echter gesellschaftlicher Wandel beginnt für Justin erst Jahrzehnte später:
Ab 2009 werden trans Personen in den USA nicht mehr offiziell als psychisch krank klassifiziert. Organisationen wie die Girl Scouts oder die Episcopal Church öffnen sich für trans Mitglieder. Justin empfindet diese Entwicklungen als Meilensteine, auch wenn sie längst überfällig sind.
Der politische Backlash ab 2017
Doch mit dem Erstarken rechter Bewegungen ab 2017 verschärft sich die Situation erneut:
„Wir wurden wieder dämonisiert. Als Gefahr dargestellt. Nicht als Menschen. Sondern als Mittel, um Angst zu schüren und Stimmen zu gewinnen.“
Trans Menschen werden zur Projektionsfläche für rechte Kulturkämpfe. Politische Instrumentalisierung ersetzt echten Dialog. Justin beobachtet diese Entwicklung mit Sorge – aber nicht mit Resignation.
Ein stilles Leben – und ein lauter Stolz
Justin führt ein ruhiges Leben. Er gründet ein eigenes Unternehmen, heiratet seine Frau, bleibt gesund. Jahrelang geht er kaum zu Arztterminen – heute macht er einmal jährlich einen Check-up. „Ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Viele trans Menschen haben ganz andere Erfahrungen gemacht.“
Was sich verändert hat, ist die Sichtbarkeit. „Damals kannte ich kaum jemanden wie mich. Heute sehe ich Tausende. Ich habe endlich die Community, die ich mir immer gewünscht habe. Und wir sind wunderschön.“
Was er der jungen Generation sagen will
„Wir hatten kein Internet. Keine sozialen Medien. Kein Google. Wir fanden einander, wenn überhaupt, durch Zufall. Und es gab keine wissenschaftlichen Beweise, die unsere Existenz untermauerten.“
Auf die Frage, was er seinem 22-jährigen Ich sagen würde, antwortet er:
„Ich bin so stolz auf dich. Damals war das kein Mut – das war Überleben. Und heute? Heute lebst du wirklich.“
Info:
Justin Alexander wurde 1962 in eine jüdische Familie geboren. Er lebt seit 1985 als trans Mann, ist seitdem auf Testosteron und setzt sich für Sichtbarkeit und Gleichberechtigung ein. Er teilt seinen Geburtstag mit Tim Curry – dem Schauspieler, der Dr. Frank-N-Furter in der Rocky Horror Picture Show spielte.
„Ich liebe ihn! Er war wild, frei und sexy. Und ich dachte: Vielleicht gibt es doch einen Platz für Leute wie mich.“
Hatte mich schon gefragt wie Justin Alexander ausschaut - Happy Birthday lieber Justin 🎁